Ludwig Kramer ist neuer Vorsitzender

Bei der Hauptversammlung am 23. November wurde Prim. Univ.-Prof. Dr. Ludwig Kramer zum Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Ärztinnen und Ärzte gewählt. Die Rede des neuen Vorsitzenden:
 
 
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Freundinnen und Freunde! Genossinnen und Genossen! 
 
Ich danke euch für das große Vertrauen, das ihr mir entgegengebracht habt. Die meisten von euch kenne ich bereits viele Jahre, und ich fühle mich in unserem Kreis immer sehr wohl. Ich bedanke mich dafür, dass so viele von euch da sind. 
 
Herzlichen Dank auch den engagierten Mitarbeiterinnen des BSA, deren Effizienz ich in den letzten Tagen bereits kennenlernen konnte!
 
Zunächst möchte ich mich bei meinem Vorgänger Marcus Köller bedanken, der in sympathischer, persönlicher, entspannter und gleichzeitig effizienter Arbeit unsere Gruppe souverän geleitet hat, und das neben seinen anderen Funktionen. Weiters danke ich Thomas Szekeres. Er hat als Betriebsrat im AKH gezeigt, dass man mit bodenständiger, effizienter und an den Bedürfnissen der Kolleginnen und Kollegen orientierter Arbeit nie geahnte Mehrheiten einfahren kann. Thomas ist aber auch in seiner menschlichen Art, als Wissenschaftler und Mediziner ein Vorbild. Er hat für uns historische Erfolge erreicht, die erste Position als sozialdemokratischer Ärztekammerpräsident Wiens und Österreichs – in einer Gruppe, die traditionell alles andere als sozialdemokratisch stimmt. Dass ausgerechnet Teile der Wiener Sozialdemokratie damit ihre Probleme hatten, ist eine Ironie der Geschichte, die wir erfreulicherweise wieder vergessen konnten.
 
Weiters danke ich all jenen, die für mich die lange Tradition der sozialdemokratischen Ärzte, Ärztinnen und Intellektuellen verkörpern. So danke ich stellvertretend Liesl Pittermann mit ihrer genauen Kenntnis des österreichischen Gesundheitssystems uns seiner gesetzlichen Regelungen aus ihrer langjährigen Erfahrung als Primaria, Stadträtin und Parlamentarierin. Ich danke auch Roland Paukner, der als praktischer Arzt in Ottakring, als Standespolitiker und Direktor im KAV immer gezeigt hat was Effizienz und Einsatz ist, und der unermüdlich für unsere Sache kämpft. Danken möchte ich auch dem heute aus Gesundheitsgründen leider abwesenden Ermar Junker, der nicht nur in seiner jahrzehntelangen Arbeit als Tuberkulosebeauftragter und Landessanitätsdirektor, sondern auch als Vorsitzender der sozialistischen Ärztevereinigung 1968-1989 die Geschichte der sozialdemokratischen Ärztebewegung verkörpert und mich auch persönlich unterstützt hat. Legendär sind seine geschichtlichen Abrisse auf der Rückseite der Analyse. Ich darf dazu bemerken, dass die 1921 gegründete Vereinigung sozialdemokratischer Ärzte Wiens zunächst nur 28 Mitglieder hatte. Auch unsere leider viel zu früh von uns gegangene Freundin Sabine Oberhauser verkörperte diese Tradition. Vielen Dank an all diese besonderen Menschen. 
 
Der Zusammenhang zwischen Sozialdemokratie und Medizin ist eng; und wir müssen in Zeiten grassierender sozialdemokratischer Kritik am „Ärztestand“ darauf hinweisen. Dr.Victor Adler, unser Parteigründer,  hat als begüterter Arzt (er besaß unter anderem das Haus Berggasse 19, wo ein gewisser Sigmund Freud logierte), die Bedürfnisse und Mängel seiner unterprivilegierten Zeitgenossen erkannt. Ganz besonderes Unrecht sah er bei den Wienerberger Ziegelarbeitern. Heute fühlen sich viele von uns nicht mehr angesprochen davon, denn das Elend ist heute versteckt. Wir hören von steigenden Gewinnen der Industrie, sehen aber gleichzeitig massive Reallohnverluste. Victor Adler und seine Genossen hingegen haben 1888/89 das Hainfelder Manifest verfasst. Vieles daraus ist heute – in einer Zeit rasch wachsender Verteilungsungerechtigkeit und politischer Irrationalität – wieder aktuell:
 
„Die sozialdemokratische Arbeiterpartei in Österreich erstrebt für das gesamte Volk ohne Unterschied der Nation, der Rasse und des Geschlechtes die Befreiung aus den Fesseln der ökonomischen Abhängigkeit, die Beseitigung der politischen Rechtlosigkeit und die Erhebung aus der geistigen Verkümmerung.“ 
 
„Die Ursache dieses unwürdigen Zustandes ist nicht in einzelnen politischen Einrichtungen zu suchen, sondern in der das Wesen des ganzen Gesellschaftszustandes bedingenden und beherrschenden Tatsache, daß die Arbeitsmittel in den Händen einzelner Besitzender monopolisiert sind. Der Besitzer der Arbeitskraft, die Arbeiterklasse, wird dadurch zum Sklaven der Besitzer der Arbeitsmittel, der Kapitalistenklasse, deren politische und ökonomische Herrschaft im heutigen Staate Ausdruck findet.“ [Heute gibt es keine Fabrikanten und Industriellen zum Anfassen, sondern anonyme Fonds und Banken, die weltweit die Arbeitsmittel, aber auch die Medien besitzen und damit die Meinung der Menschen beeinflussen.]
 
Weitere für mich wichtige Sätze des berühmten Berliner Pathologen Rudolf Virchow:
 
„Die Medicin ist eine soziale Wissenschaft – die Politik ist nichts weiteres als Medicin im Großen.“ Und: „Es genügt also nicht, dass der Staat jedem Staatsbürger die Mittel zur Existenz überhaupt gewährt … Der Staat muss mehr tun, er muss jedem soweit beistehen, dass er eine gesundheitsgemäße Existenz habe.“ 
 
Wenn wir diese Aussagen jenen der eisernen Lady Margareth Thatcher gegenüberstellen: „there's no such thing as society“, oder „starve the beast“ (gemeint ist der Staat, also wir alle) dann sehen wir die Differenzen der politischen Kulturen, und wie unsere neoliberalen Feinde eigentlich denken. 
 
Im heutigen Österreich sind trotz einer langen Tradition der sozialen Marktwirtschaft Kapital- aber auch Immobilienbesitze extrem ungerecht verteilt: 37 % des Wohlstands in Österreich gehören dem obersten 1 Prozent, 50 % der Bevölkerung an der Basis der Gesellschaft besitzen lediglich 5 % des Wohlstands. In Deutschland ist die Situation ganz ähnlich. Die von Victor Adler angesprochenen „Sklaven der Besitzer“ sind heute nicht mehr Ziegelarbeiter, sondern zB ich-AGs ohne Möglichkeit einer gewerkschaftlichen Vertretung und immer mehr entfremdete “working poor”.
 
Die im 20. Jahrhundert als Reaktion auf unendliches Leid und 2 Weltkriege erzwungenen Umverteilungsmechanismen wurden in den letzten 40 Jahren schleichend wieder aufgehoben, ja mit aktiver Mithilfe der Politik ins Gegenteil verkehrt. Heute haben wir eine bestens funktionierende Umverteilung – von unten nach oben! Wir finden es inzwischen fast normal und legitim, dass Superreiche keine Steuern zahlen, Stiftungen ohne Wohltätigkeitsverpflichtung besitzen, mit Spitzenpolitikern aller Couleurs auf Urlaub fahren, diese ihre Privatjets benützen. „Experten“, die auf der Gehaltsliste von Banken und Versicherungen stehen, beraten Pensionskommissionen und Minister. Wir finden es normal, dass Fonds der Reichen die staatliche Altersvorsorge übernehmen wollen. Bei der Gesundheit ist die Privatisierung in Deutschland teilweise schon gelungen. Gesundheitskonzerne wie Helios machen jährlich bis 15% Gewinn. In Österreich wird derzeit noch diskutiert, aber ich gehe davon aus, dass „Reform“- Sparpläne für die Gesundheitsversorgung schon fertiggeschrieben sind und nur auf den richtigen Zeitpunkt warten.
 
Die Folgen werden in öffentlichen Investitionen sichtbar, wo Sparpaket auf Sparpaket beschlossen wird, ohne dass das zugrundeliegende Problem, die quasi Steuerbefreiung des Kapitals, gelöst oder auch nur diskutiert wird. Reformen über Reformen und Sparpakete werden von jeder Regierung neu aufgelegt, beginnend mit Kreiskys Mallorca-Paket, dem Verkauf der staatlichen Industrie in der Vranitzky-Ära und unserer Morgengabe an die Lufthansa. Unsere Wahlkampfslogans wurden 2017 vom politischen Gegner geklaut und verwendet – wäre das vor 100 Jahren möglich gewesen? Nein, damals waren Klassen und Interessen klar definiert. Heute ist der Neoliberalismus auch in Teilen der SPÖ zu Hause. Die eigentlichen Finanzierungsprobleme wurden damit aber nie gelöst, im Gegenteil.
 
Heute benötigen wir eine Neudefinition, für wen wir stehen. Wir müssen uns von der allumfassenden medialen Propaganda befreien. Und, wir brauchen unser politisches Licht überhaupt nicht unter den Scheffel stellen! Die SPÖ hat über viele Jahrzehnte fast allein und höchst effizient dazu beigetragen, dass die Arbeitsnehmerrechte, die öffentliche Infrastruktur, aber auch die Gesundheitsversorgung in Österreich zu dem ausgebaut wurden, was sie heute sind. Sie hat dazu beigetragen, dass eine lange Phase sozialen Friedens begründet wurde. Der früher allgegenwärtige Arbeitskampf ist schon fast verlernt. Auch wenn diese Errungenschaften als selbstverständlich und für alle Zeiten gesichert angesehen werden – das sind sie nicht. Wir sehen und erkennen, dass schon seit Jahren eifrig an ihrem Rückbau gearbeitet wird, durchaus im Konzert mit neoliberalen Strömungen Europas und massiv unterstützt durch die Medienwelt. 
 
Die schon von der Regierung Schüssel I unverblümt ausgesprochene Drohung einer Abschaffung der Pflichtmitgliedschaft in Arbeiterkammer und anderen Kammern, so auch der Ärztekammer, wird heute in Regierungsverhandlungen hinter verschlossenen Türen diskutiert. Es soll Druck ausgeübt werden. Die aus den dreißiger Jahren bekannte Zusammenrottung der Länder gegen Wien wird gerade im Gesundheitssystem geprobt, wo Wien trotz seiner dominierenden Position keine Stimme mehr haben soll. Auch im Sozialsystem (Stichwort Mindestsicherung) versucht eine reaktionäre Politik Wien in die Knie zu zwingen und gleichzeitig mit emotional gefärbten und manipulativen Medienkampagnen die Bevölkerung hinters Licht zu führen. Menschlichkeit und Solidarität sollen als Schwäche ausgelegt werden. Die von Victor Adler angesprochene geistige Verkümmerung wird zur Norm. („Schließen der Mittelmeerroute“ als Beispiel)
 
Liebe Freunde, wie kann sozialdemokratische Gesundheitspolitik unter diesen Bedingungen heute aussehen? Was können wir gemeinsam noch bewegen?
  1. Sicherlich ist es nicht ausreichend, allein als Interessenvertretung der im Spital und in den Praxen tätigen Kolleginnen und Kollegen zu fungieren. Die Kraft unserer Ideen, die Entwicklung einer modernen Gesellschaft, die Solidarität mit allen in der Gesellschaft – all das geht weit über Interessenpolitik hinaus, ohne diese aber auszuschließen. Menschlichkeit, Vernunft und politischer Weitblick sind nötig. Lasst uns die Desinformation bekämpfen, die Fakten und die Hintergründe erkennen.
  2. Wir haben uns ohne zwingende Notwendigkeit dazu verleiten lassen, medizinische Versorgung und das Gesundheitssystem primär als Kostenfaktor zu sehen, den man rationieren und limitieren könne und müsse. Der gewaltige medizinische Fortschritt sei keine gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die allen in der Gesellschaft zu gute kommen müsse, sondern ein mit Patenten und Restriktionen abzusicherndes privates Gut, dass dem Höchstbietenden, nicht der Gesamtgesellschaft zustehe. Hier ist es wichtig, in die Geschichte zu blicken und mit aller Kraft dagegen anzukämpfen. Wir haben als Ärzte einen enormen Einfluss, sind uns dessen aber nicht bewusst. Die Bevölkerung steht auf unserer Seite!
  3. Den Zugang zur universitären Medizinausbildung haben wir uns kampflos abnehmen lassen. Wir haben akzeptiert, dass fragwürdige Privatuniversitäten gegründet wurden, die ohne öffentliche Zugangsbeschränkung nicht überlebensfähig wären. Medizin ist auch in der (Aus-) Bildung zum Geschäft geworden. Soll das so bleiben? Lasst uns darüber nachdenken.
  4. Unsere noch teilweise intakte Tradition des freien und unlimitierten Zugangs zum gut ausgebauten öffentlichen Gesundheitssystem soll durch ein paternalistisches, mit Algorithmen unterstütztes Leitsystem ersetzt werden. Um zu sparen. Aus einer selbstverständlichen Anspruchshaltung an den Staat zur Erhaltung der Gesundheit sind Wirtschaftsgüter geworden, die in Rechnung gestellt werden. Selbst unsere Gebietskrankenkassen haben begonnen, den Patienten Kostenaufstellungen über Leistungen zuzusenden. Damit wird die mentale Umwandlung des „Rechts auf Gesundheit“ für jeden Staatsbürger in „Gesundheit auf Rechnung“ vollzogen. Eine Forderung von Thatcher & Co wird damit umgesetzt: alles soll seinen Preis haben.
  5. Die Medizin entwickelt sich enorm, wir können heute Unglaubliches erreichen, haben die Innovationskraft aber vielfach an Pharmaindustrie und Medizintechnik verloren und erwarten die Lösungen von dort. Unsere öffentliche Administration ist hingegen oft von Bürokratie und Ineffizienz gekennzeichnet, die viele von uns ermüden und resignieren lässt, die uns oft vergessen lässt, wofür wir eigentlich Ärzte geworden sind. Das kann nicht so bleiben!
  6. Lasst uns überall an modernen und effizienten Lösungen arbeiten! Bekennen wir uns – gerade als Sozialdemokraten – zu Leistung und Exzellenz, die unseren Patientinnen und Patienten zu Gute kommen, die aber nicht als Druckmittel im Verteilungskampf einer modernen Sklavengesellschaft missbraucht werden dürfen!
Liebe Freunde! Gemeinsam mit euch möchte ich daran mitwirken, dass wir wieder Fragen stellen, dass wir auch scheinbar im überparteiischen Konsens gesicherte Meinungen hinterfragen, und auch politische Antworten zur Lösung unserer Zukunftsprobleme finden. Diese liegen nicht auf der Straße. Aber ich glaube fest daran, dass die Medizin eine ganz zentrale Rolle in der Politik spielen muss, und dass wir als Ärztinnen und Ärzte weit näher an den Problemen der Menschen sind als viele andere Berufsgruppen. In diesem Sinn freue ich mich auf die nächsten Jahre mit euch.